Kunst im Globalen Lernen
Bildende Kunst umfasst, einfach gesagt, alle primär visuellen Kunstformen, seien es Gemälde, Grafiken, Architektur, Design – und natürlich auch Film. Das klingt einfach, aber es gibt wiederum auch viele verschiedene filmische Formen, die von journalistischen Formaten wie Dokumentationen, Reportagen, Magazinbeiträgen bis hin zum künstlerischen Dokumentarfilm und Spielfilm reichen.
Der Einsatz von Filmen spielt im Lernbereich Globale Entwicklung schon deshalb eine sehr wichtige Rolle, weil sich Globalität in seiner Vielfalt nur bedingt im realen Lebensraum von den Lernenden erschließen lässt. Darüber hinaus hat die rasante Entwicklung der Informationstechnologie als Beschleuniger der Globalisierung Kommunikationsformen als Fundament gesellschaftlicher Prozesse in wenigen Jahrzehnten grundlegend verändert. Schon allein deshalb ist eine erhebliche Medienkompetenz erforderlich, um Inhalte reflektieren und die Wirkung der bildlichen Darstellung durchschauen zu können.
Filmbildung im Globalen Lernen geht über diese wichtige Aufgabe, Medienkompetenz zu stärken, hinaus. In seinem Buch „Kino als Kunst“ betont der französische Filmemacher, Filmpublizist und Pädagoge Alain Bergala genau diesen Aspekt. Film nicht für den Unterricht zu instrumentalisieren, sondern ihn selbst zum Medium der Betrachtung zu machen, ist sein Anliegen. Die Lust am Sehen soll geweckt werden und die Fähigkeit, die bewusste Gestaltung von Bildinhalten durch Farbe, Schnitt/Rhythmus, Klang/Musik zu erkennen und zu bewerten. Im Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung heißt es, dass „Bilder“ unsere Sicht auf die Welt konstruieren. Mit der zunehmenden Präsenz von Bildern steigt also unbedingt auch die Bedeutung eines kompetenten und verantwortungsvollen Bildgebrauchs.
Dass das Kino der Ort für diese Erfahrung ist, davon ist auch Vision Kino überzeugt, eine gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung der Film- und Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen. Ziel und Aufgabe ist es, als Teil der kulturellen Jugendbildung und im Rahmen einer übergreifenden Medienkompetenz, insbesondere die Filmkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu stärken und sie gleichzeitig für den Kulturort und originären Rezeptionsort des Films, das Kino, zu sensibilisieren.
Ein Teil des Schulkinoprogramms 2022/23 widmet sich den 17 Zielen (SDGs), deren Anliegen in verschiedenen filmischen Formaten umgesetzt und durch ausführliches filmpädagogisches Begleitmaterial ergänzt wird. Hilfreich für LehrerInnen ist zum Beispiel, dass einzelne Szenen in ihrem Aufbau und ihrer Struktur durch Ausschnitte analysierbar werden. Dass der Film mehrmals gesehen werden kann – im Kino und im Klassenzimmer – und so ein genaues Hinsehen und langsames Erfassen der Struktur ermöglicht wird, erhöht die Annäherung an Film als gestaltete Erzählung und dadurch auch an deren Inhalte.
Zum Programm gehört der Spielfilm „Made in Bangladesh“ von Rubayiat Hossein (Frankreich, Bangladesch, Dänemark, Portugal, 2019, 95 Min. OmU). Auch wenn die Geschichte einer jungen Frau, die sich für die Gründung einer Gewerkschaft in der Textilfabrik in Dhaka, in der sie arbeitet, im Mittelpunkt steht, werden doch auch viele parallele Geschichten über Frausein in Bangladesch erzählt. Musik in der Tradition von Bollywoodfilmen spielt hierbei ebenso eine Rolle, wie die Farbgebung einzelner Szenen oder wie die Kleidung der jungen Frauen hervorgehoben und zurückgenommen wird. Über die Erzählung, die uns als KonsumentInnen von Kleidung zu mehr Solidarität mit den ArbeiterInnen im Globalen Süden auffordert, erfahren wir auch etwas von der Widersprüchlichkeit, die für jede einzelne der Frauen mit der Arbeit in den Fabriken verbunden ist.
Auch der Spielfilm des äthiopischen Regisseurs Yared Zeleke „Ephraim und das Lamm“ (Äthiopien, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Katar 2015, 94 Min., OmU) ist den 17 Zielen zugeordnet, hier dem Ziel 2: Kein Hunger. Als sein Vater in der Stadt nach Arbeit suchen muss, kommt der neunjährige Ephraim mit seinem Lamm im äthiopischen Hochland bei Verwandten seiner verstorbenen Mutter unter. Dort ist das Lamm, das er von seiner Mutter erhalten hat, sein einziger Halt. Obwohl die Nahrungsmittelknappheit, die auch dort herrscht, nicht Kern der Handlung ist, die sich vielmehr auf den Verlust der Mutter und die Abwesenheit des Vaters konzentriert, bestimmt der Mangel doch die Lebenssituation aller Personen, die der Film nahebringt. Doch was treibt diese um in ihren Entscheidungen, wie werden die jungen und die älteren Familienmitglieder geschildert, welcher Zusammenhalt bietet sich Ephraim an, um aus seiner Trauer zu finden? So eröffnet der Film neben der Auseinandersetzung um die Agenda 2030 Anknüpfungspunkte, sich mit dem Fremden und dem Eigenen, dem Erleben von Trauer, Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft zu beschäftigen.
In ihrem Spielfilm „Die Adern der Welt“ greift Regisseurin Byambasuren Davaa (Deutschland, Mongolei 2020, 95 Min.) die Auswirkungen rücksichtslosen Profitstreben auf eine Nomadenfamilie in der Mongolischen Steppe auf. Der 12-jährige Amra hilft seiner Mutter beim Hüten der Ziegen und Schafe, von seinem Vater, der als Mechaniker arbeitet und mit dem Verkauf von Käse auf dem lokalen Markt zusätzliches Geld verdient, wird er täglich in die Schule gefahren. Hier schaut er mit seinen Freunden Youtube-Videos und träumt von seinem eigenen großen Auftritt. Doch wird der Alltag der Familie durch das Eindringen internationaler Bergbauunternehmen bedroht, die den Lebensraum der Nomaden zu zerstören drohen. Amras Vater versucht, sich zu widersetzen. Als er bei einem Unfall ums Leben kommt, ändert sich alles für den Jungen, der nun mit aller Macht versucht, den Kampf seines Vaters fortzusetzen. Verbunden mit den Zielen 1: Keine Armut, 8: Menschwürdige Arbeit und 12: Nachhaltiger/r Konsum und Produktion, gibt es auch hier ein Mehr an Geschichte und Erfahrungswissen über ein Leben in enger Verbindung mit der rauen Umwelt. Und es gibt die Sehnsucht eines Jungen, der, wie alle Gleichaltrigen, medial mit der Welt verbunden ist und seinen Traum vom Glück verfolgt.
Die Frage, welche Rolle Kunst in politischen Prozessen spielen kann oder gar muss, wird immer schon kontrovers diskutiert. Gerade im Krieg gewinnt diese Frage auch bei der künstlerischen Bildproduktion an Dringlichkeit, um den zahllosen Bildern, die auf MediennutzerInnen einströmen, etwas entgegenzusetzen. Gibt es einerseits die Auffassung, dass Politik die Kunst nicht beeinflussen soll, so wird doch auch zu bedenken gegeben, dass KünstlerInnen als Teil der Gesellschaft von den sie umgebenden politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Einflüssen geprägt sind und dies in ihrem künstlichen Ausdruck sichtbar wird. Für ZuschauerInnen wiederum ist es wichtig dies in die vielfältigen Möglichkeiten der Rezeption eines Kunstwerkes/eines Films einzubeziehen.
„Frauen, Leben, Freiheit“: Nach dem gewaltsamen Tod der Kurdischen Iranerin Mahsa Amini im September 2022 in Teheran haben die Proteste der Frauen und Männer im Iran nicht aufgehört, sondern an Stärke zugenommen. Dabei wurden nach Einschätzungen von MenschenrechtlerInnen bislang fast 15.000 Demonstranten festgenommen, mehr als 300 Menschen kamen ums Leben. Im November wurde auch das erste Todesurteil gegen einen Demonstranten verhängt.
Die Regisseurin und Schauspielerin Maryam Moghaddam hat zusammen mit Regisseur Behtash Sanaeeha mit dem Spielfilm „Die Ballade von der weißen Kuh“ (Iran, Frankreich 2020, 105 Min.) einen eindringlichen Spielfilm über die Todesstrafe im Iran gedreht, der bei der Berlinale 2021 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Ein Jahr nachdem das Todesurteil an ihrem Mann vollstreckt wurde, erfährt Mina, dass er unschuldig hingerichtet worden war. Die Behörden stellen ihr eine finanzielle Entschädigung in Aussicht, doch Mina nimmt den Kampf gegen das System auf und fordert mehr als nur materielle Wiedergutmachung. Das Leben mit ihrer gehörlosen Tochter, die Arbeit in der Fabrik und die Annäherungsversuche ihres Schwagers belasten sie zunehmend. Eines Tages begegnet Mina einem Freund ihres Mannes, der eine alte Schuld begleichen will. Mina lässt ihn in ihr Leben, ohne näheres über ihn zu wissen. Die Geschichte über einen Justizirrtum, die Schwierigkeiten einer alleinstehenden Frau und Mutter in der iranischen Gesellschaft, die Mina, hervorragend verkörpert durch Maryam Moghaddam, zu ertragen hat, werden in dem metaphernreichen und bildstarken Werk einfühlsam zum Ausdruck gebracht. https://www.weltkino.de/filme/ballade-von-der-weissen-kuh
Der Film erscheint im März 2023 bei EZEF mit ausführlichem Begleitmaterial für die Bildungsarbeit.
Der Spielfilm „Eine respektable Familie“ von Massoud Bakhshi (Iran 2012, 90 Min.) ist eine sensible Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte des Iran, erzählt am Beispiel eines Wissenschaftlers, der für eine Gastprofessur in seine Heimatstadt Shiraz zurückkehrte. Vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen der sogenannten Grünen Bewegung im Sommer 2009 entfaltet sich die Familiengeschichte von Arash, dessen Neffe und Onkel sehr darum bemüht sind die Versöhnlich zwischen dem Sohn und dem todkranken Vater zu forcieren, um dessen Vermögen auf sie zu überschreiben. Der Film geht auf die Vorgeschichte der Ereignisse in Form von Rückblenden ein und verschränkt die Spielfilmhandlung kunstvoll mit bisher teils unveröffentlichtem Dokumentarfilmmaterial aus der Frühzeit der Iranischen Republik. So entsteht eine komplexe Familiengeschichte, in der sich die Wirren und Widersprüche der Iranischen Revolution spiegeln, deren Kenntnis auch die heutigen Ereignisse neu beleuchten.
In dem Spielfilm „Land of Dreams“ (Shirin Neshat, Shoja Azari, USA, Deutschland, Katar 2021, 113 Min.) reist die iranischstämmige Sirim im Auftrag der US-amerikanischen Zensusbehörde durch den Mittleren Westen, um unter anderem die Träume der Menschen aufzuzeichnen. Die Zeit liegt in einer ungewissen Zukunft, die GesprächspartnerInnen öffnen sich mit ihren rassistischen, evangelikalen oder fundamentalistischen Stereotypen oder verweigern, wenn sie nicht zu den Gewinnern des „American Dream“ gehören, jeglicher Kommunikation. Die exiliranische Foto- und Videokünstlerin Shirin Neshat, die durch ihre Arbeiten über Frauen und ihre Technik, handgeschriebene Gedichte mit Portraits zu verbinden bekannt wurde, verschränkt die Erzählung über ein dystopisches Land mit gleißenden Bildern der Schönheit amerikanischer Landschaften. Gleichzeitig verbindet sie in traumhaften Szenen die Geschichte des Iran mit Verlust von Familie und Heimat. Die selbst wie traumwandelnd durch den Film führende Simin beginnt zu ahnen, welche Bedeutung ihre zunächst harmlos erscheinenden Fragen nach Träumen haben kann.
Titelbild aus dem Film: Ballade von der Weißen Kuh von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha